Eine Landschaft. Bäume. Wiesen. Wasser. Wind.
Eine Leinwand darin. Und einer, der schaut und sieht und das Geschaute malt.
Oder ist die Natur die Leinwand? Ein Hoffnungsort, auf den wir unsere Sehnsucht werfen?
Harmonie. Schönheit. Freiheit. Frieden. Einssein. Verschmelzen.
Schöne Natur. Unberührte Natur. Grüne Symphonie. Abenteuer der blumenduftenden Luft.
Umgebung. Rauschende Stille.
Die Natur gibt und umgibt. Umgebung und reine Präsenz. Sie hilft ihm, gegenwärtig zu sein, dem Mann mit der Leinwand, unbedroht von Zukünften. Und noch wir, die sehen, was er aus seinem Schauen gestaltet hat, werden in den Moment gezwungen, in die Gegenwart. Wenn wir uns dem Anspruch der Bilder stellen, vernehmen wir den Rhythmus, hören den Tanz der Farben. Dann sind auch wir umgeben. Als wäre der Wind von damals heute hier.
Und er, der Mann mit der Leinwand, ist der Gebende, noch immer. Der Hergebende, der Weitergebende, der beschenkte Schenkende. Seine große Arbeit der Aneignung, des aus der Tiefe gestaltenden Schauens: Sie ist da. Sie ist Gegenwart. Sie umgibt uns hier und heute.
Natur lässt. Sie lässt zu. Sie lässt allein. Sie lässt dich zu dir kommen. Sie lässt dich zu ihr kommen. Sie lässt dich gehen. Sie braucht dich nicht. Schau sie an, schau sie nicht an: Sie merkt es nicht. Sie schaut nicht. Sie schaut durch dich hindurch. Sie war vor dir, wird nach dir sein. Dein Tod ist ihr kein Drama. Die Natur lässt dich. Und wenn du dich einlässt, wenn du ein paar Atemzüge lang teil nimmst und teil hast an den Jahrmillionen alten Metamorphosen des Wachsens und Vergehens, dann wächst vielleicht deine Gelassenheit. Ins Weite, in die Freiheit bist du gelassen. Wenigstens einen Atemzug lang.
Mutter Natur. Die Romantik hat ihr in unserer Wahrnehmung das Gefährliche, das Wilde genommen und sie uns nahe gelegt als Ort der Ruhe und der Erholung. Im Wald sind keine Räuber mehr. Licht ist ins Dunkel geflossen – Zeichen des Lebens für uns, deren Dasein im Dunkel begann.
Aber im schönsten Schönen ist das Entsetzen beklemmend nah. Das Schöne ist des Schrecklichen Anfang. Die schöne Harmonie der Natur ist das Gleichgewicht des Verdrängens. Wo eines ist, muss anderes weichen. Der Tanz der Farben ist auch Kampf der Farben. Rhythmus braucht Gestalt, und Gestalt heißt: Kontur und Grenze. Das Entgrenzende, das alles in sich Aufhebende, das Verschmelzende, das Überschreitende und Vereinende: das ist der Tod. Der Tod, der in dir wächst aus altem Samen.
Als Schauender bist du gegenüber. Aber du bist auch Teil. Durch dich hindurch und über dich hinweg wächst die Natur und weint nicht um dich. Du bist dein Schauen selbst. Du bist zur Landschaft geworden. Deine Gestalt, dein Haupt, geformt aus dich durchwachsenden Bäumen, lodert auf von grünen Feuerzungen. Die Natur nimmt uns zurück ins Dunkel, wenn unsere Kraft am Ende ist.
Sie kennt kein Drama. Wir schon. Vielleicht ist auch das Schreckliche manchmal des Schönen Anfang?
Wir fallen aus der Mutter ins Licht. Und aus dem Licht: zurück.
Dieser Kreislauf ist unentrinnbar. Urteil und Freispruch in einem.

Christian Rathner / Oktober 2009